Der Traum ist aus!
von Dietmar Wolf
erscheinenden 2015, in der Zeitschrift telegraph, Nr. 131/132
„Nach der Anarchie ist der erste Akt des neuen Deutschlands,
Utopie zu zerschlagen. Und zwar mit massiver militärischer Gewalt.“
(Thomas Heise)2
Die Tage und Nächte vom 12. zum 14. November 1990 markieren den Anfang vom Ende der zweiten großen HausbesetzerInnenbewegung in Berlin. Als sich ein im Laufe der Auseinandersetzungen auf 4.000 Köpfe anwachsendes Polizeiaufgebot, abgesichert durch Tränengas und Wasserwerfer, auf den Weg nach Berlin-Friedrichshain machte, gab es in den Ostberliner Stadtbezirken Prenzlauer Berg, Mitte, Friedrichshain und Lichtenberg zirka 200 besetzte Häuser. Westberlin hatte in Kreuzberg ihrer zwei und eines in Schöneberg. 120 von ihnen hatten sich in einem Gesamtberliner BesetzerInnenrat zusammengeschlossen und über das sogenannte Vertragsgremium Verhandlungen (wenn auch erfolglos) mit dem Ostberliner Magistrat, und später auch dem Westberliner Senat, geführt. Allen voran, meist federführend, nicht selten ausgesprochen dominant und immer auch einen Tick zu vorlaut, agierten dabei die Häuser der Mainzer Straße. Und das verständlicherweise nicht gerade zur Freude der BewohnerInnen der anderen besetzten Häuser in der ehemaligen Hauptstadt der DDR, die im November 1990 vor wenigen Wochen wieder gesamtdeutsche geworden war.
Letztendlich aber und ungeachtet aller Kritik an der Mainzer Straße, verhielten sich die BewohnerInnen aller Häuser während und auch nach der Räumung hundertprozentig solidarisch. Viele gehörten zu den VerteidigerInnen und UnterstützerInnen, und nach der Räumung bekamen die BewohnerInnen der Mainzer Straße Asyl in anderen Häusern. So zog zum Beispiel nach der Räumung das Tuntenhaus in die Prenzlauer Berger Kastanienallee 86, wo es sich noch heute im hinteren Flügel befindet. Der Schriftzug am Vorderhaus – „Kapitalismus normiert, zerstört, tötet“– geriet zum mittlerweile legendären Fotomotiv. Die BewohnerInnen der Mainzer Straße 24 wurden Teil des besetzten Hauses in der Linienstraße 206, Stadtbezirk Mitte. Ein Großteil der MainzerInnen zog in ein ehemals besetztes Haus in der Reichenberger Straße in Kreuzberg. Auch in der benachbarten „Köpi“ in Mitte und in anderen besetzten Häusern kamen viele MainzerInnen unter.
Vom Schwarzwohnen zum Häuserbesetzen
Ein Exkurs: Hausbesetzungen waren auch in der DDR nichts Neues. „Schwarzes Wohnen“ in leerstehenden Räumen galt praktisch als Volkssport und wurde zu einer wahren Massenbewegung. Viele Wohnungsbesetzungen führten mit der Zeit dazu, daß plötzlich ganze Häuser „schwarz“ bezogen waren. Oftmals waren die Kommunalen Wohnungsverwaltungen der Bezirke (KWV) und die Volkspolizei zu überfordert, um die BesetzerInnen zu bemerken, auf die sie zumeist erst durch Denunziationen „wachsamer Mitbürger“ aufmerksam wurden. War dies erst einmal geschehen, hing das weitere Verfahren von den meist korrupten SachbearbeiterInnen der KWV ab. Stand die jeweilige Wohnung zum Beispiel in den Schieberplänen des zuständigen Sachbearbeiters, waren der Rausschmiß durch die Volkspolizei und eine hohe Geldstrafe unausweichlich. Hatte der Sachbearbeiter keine Eigeninteressen, durfte gehofft werden, mit einer Geldstrafe davon zu kommen und in der Wohnung bleiben zu dürfen.
Immer wieder kam es auch zu stillen Besetzungen ganzer Hinterhäuser. Offene Hausbesetzungen waren selten, wurden jedoch auch immer wieder und zunehmend in den Achtzigerjahren versucht. So besetzten Punks in der Gleim- und Wörther Straße, Prenzlauer Berg, zwei Häuser. Andere versuchten es in Lichtenberg. Diese Besetzungen wurden recht schnell von Polizei und Staatssicherheit beendet, die hinter diesen Aktionen die Bildung neuer konspirativer, „feindlich negativer“ Zentren vermutete.
So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß das erste offizielle Haus der Ostberliner BesetzerInnenbewegung eigentlich eine stille fortschreitende Wohnungsbesetzung war: die Schönhauser Allee 20, ab Sommer 1989 so gut wie komplett besetzt. Und das in direkter Nachbarschaft zur Volkspolizeiinspektion Prenzlauer Berg! Am 22. Dezember 1989 gaben die BesetzerInnen sich dann der Öffentlichkeit mit Transparenten bekannt – der Tag gilt als Beginn der HausbesetzerInnenbewegung in Ostberlin.
Im Januar 1990 bildete sich ein erster „BesetzerInnenrat”, der die Handlungen der jeweiligen Häuser koordinieren und die Verhandlungen mit der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) und dem Berliner Magistrat organisieren und führen sollte. Eine Konstitution mit Voraussicht, waren doch zum Februar 1990 in Ostberlin bereits 20 Häuser besetzt. Bis dahin lag der Schwerpunkt eindeutig im Prenzlauer Berg – Friedrichshain hatte zwei, Mitte ein Haus zu bieten. Ab dem Januar 1990 kamen die ersten BesetzerInnen aus dem Westteil Berlins. Die Häuser Kastanienallee 85/86 im Prenzlauer Berg und das Haus Köpenicker Straße 137 wurden als sogenannte „Ost/West“-Besetzungen bezeichnet. Erste reine „West“-Besetzungen fanden in der Brunnenstraße 7, der Tucholskystraße 32 und der Linienstraße 206 (alle in Mitte) statt.
Vorerst stagnierten die Besetzungen bei etwa 50 gehaltenen Häusern. Schon seit Februar 1990 war kein Haus mehr von Ostberlinern besetzt worden; und ab März 1990 waren es dann fast nur noch Menschen aus Westberlin und Westdeutschland, die hauptsächlich in Mitte besetzten, während in Friedrichshain nur zwei Häuser, die Schreinerstraße 47 und die Kreuzigerstraße 19, gesquattet wurden.
Zeitgleich wurden die wenigen BesetzerInnen in Friedrichshain mit einer Bedrohung konfrontiert, die im Prenzlauer Berg von Anfang an akut war: in der Nacht des 4. April 1990 brach eine organisierte Gruppe Nazis in das Haus in der Kreutzigerstraße ein . Die mit Gasmasken ausgerüsteten Angreifer versprühten CS-Gas und verprügelten die wenigen BewohnerInnen.
In dieser Situation veröffentlichten einige MitgliederInnen autonomer Gruppen aus Ost und West in der Polit-Szene-Zeitschrift INTERIM einen Aufruf. Sie waren an bis dahin geheim gehaltene Informationen gelangt, denen zufolge es Spekulations- und Umstrukturierungspläne zwischen der Friedrichshainer KWV und der Westberliner Immobilienfirma Neue Heimat/WIR gäbe. In ihnen ging es um die Übernahme großer, schon zu DDR-Zeiten entmieteter und zum Abriß vorbereiteter Teile Friedrichshains: unter anderem die Niederbarnim-, die Mainzer und die Kreutzigerstraße. Die Friedrichshainer KWV sollte zuvor einige Bedingungen erfüllen, um das Geschäft für die Westberliner Firma lukrativ zu machen. Die zur Debatte stehenden Häuser müßten saniert werden. „Natürlich“ durch die KWV. Die Maßstäbe wiederum setzte die Neue Heimat/WIR.
In ihrem Text forderten die Autonomen die „Frauen und Männer aus Ost und West“ auf, „sich diese Häuser zu nehmen, bevor es zu spät ist. […] Bildet Gruppenzusammenhänge und beendet Eure Wohnungsnot!“ Der Aufruf resultierte in einer zweiten Besetzungswelle; und innerhalb kürzester Zeit ging die Zahl der Ostberliner Projekte in die eingangs erwähnten 200. Allein in der Mainzer Straße wurden insgesamt 12 Häuser besetzt, deren kompaktes, präsentes Auftreten sehr schnell zu einem ganz besonderen Verbund, mit ganz spezieller Außenwirkung und fast schon symbolhafter Strahlkraft, führte.
Du hast keine Chance – also nutze sie!
Eines jedoch ist klar: für einen langfristigen und gesicherten Fortbestand der Mainzer Besetzungen bestand zu keiner Zeit irgendeine Chance. Daß die Häuser überhaupt so lange durchhalten konnten, war lediglich der besonderen Zeit und den besonderen Umständen im sogenannten „kurzen Sommer der Anarchie“ geschuldet. Denn der erklärte Wille zur Räumung bestand auch schon in den Monaten zwischen Januar und September 1990. Nur fehlten dem Ostberliner Magistrat schlicht die Möglichkeiten und Mittel; der Westberliner Senat hatte diese. Daß seine Hoheit erst am 3. Oktober 1990 begann, war allerdings kein Hinderungsgrund, schon frühzeitig mit der Planung einer unverzüglichen Räumung der Mainzer Straße, unmittelbar nach der Eingliederung des Osten ins Land und in die Stadt, zu beginnen. Und als sich die Westberliner Wohnungsbaugesellschaften im Laufe des Sommers 1990 vorzeitig die KWVs einverleibten, war auch sichergestellt, daß die besetzten Häuser in Ostberlin, und ganz besonders die der Mainzer Straße. auf gar keinen Fall langfristige Verträge erhalten würden.
„Was dann auch noch im Sommer passierte, war, daß die KWVs aus Ostberlin von den Westberliner Wohnungsbaugesellschaften übernommen wurden. Das war in unserem Fall, Friedrichshain, die GSW. Der Geschäftsführer der Nachfolgegesellschaft der KWV, der WBF (Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain mbH i.G.), ist der Geschäftsführer der GSW, Herr Duvigneau. Kurz bevor einer der leitenden Leute von der alten KWV für den Rest seiner Dienstzeit beurlaubt wurde, hat er uns noch angeboten, er könne für die Mainzer Straße Verträge abschließen. Die GSW wäre dann natürlich erst mal verpflichtet gewesen, die zu übernehmen. Wir sind da nicht drauf eingegangen, im Nachhinein war das vielleicht ziemlich blöde von uns, aber wir wollten uns nicht abspalten.“3
Ein weiterer Garant dafür, daß die Zeit der BesetzerInnen eine kurze sein sollte, war auch der damalige Bürgermeister Friedrichshains, Helios Mendiburu (SPD). Er, der sein Amt nach den letzten DDR-Kommunalwahlen ab dem 1. Juni 1990 ausübte, erklärte in einem Rundfunkinterview zur Mainzer Straße: „Ich denke mir, daß es vernünftig wäre, diese Häuser so schnell wie möglich – auch unter der Bedingung der Kreditnahme – in Ordnung zu bringen, bewohnbar zu machen und wohnungssuchenden Bürgern aus dem Stadtbezirk diesen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Das ist natürlich ein Entscheidungsprozeß, der längere Zeit dauert. Und so lange dort diese autonomen Gruppen sich festgesetzt haben und wir jegliche Konfrontation vermeiden können und auch wollen, habe ich nichts dagegen, wenn diese autonomen Gruppen dort wohnen, sich häuslich machen. Aber sie werden von uns keine Verträge bekommen, die sie berechtigen, dort ständig Bewohner des Stadtbezirks Friedrichshain zu werden. Das ist nicht drin, da würden wir uns natürlich auch gegen die Meinung der Anwohner stellen, die sich schon teilweise bei mir sehr heftig beschwert haben über die Verhaltensweise dieser jungen Menschen.“4
Abgesehen von den wütenden Erklärungen und Briefen der Bürger-Initiative Mainzer Straße, beziehungsweise des späteren Bürgerkomitees des WB 47,5 ist schwer einschätzbar, wie sich die MieterInnen rings um die besetzten Häuser und die BesetzerInnen zueinander verhalten haben. Natürlich gibt es viele Probleme, wenn vollkommen verschiedene soziale Welten und Vorstellungen von Wohnung und Kiez aufeinander treffen. Keine Frage, auch die MainzerInnen waren wahrlich keine Unschuldslämmer. Unnötig entstandener Konfliktstoff wurde nicht selten ignoriert. Oder besser noch, man begab sich allzu leichtfertig auf die Position, die AnwohnerInnen würden sich „eben an uns gewöhnen müssen“. Die leidlich intensive Beschäftigung mit sich selbst verführte dazu, das eigene Ansehen in der Öffentlichkeit zu vernachlässigen. Und während also die Mitglieder der Bürgerinitiative gegen die besetzten Häuser hetzten, beteuerten diese, sie wären mit vielen Menschen in den anderen Häusern der Straße gut klar gekommen. Der telegraph wollte sich da lieber sein eigenes Bild machen und führte damals, während die Räumung der Mainzer Straße noch unmittelbar im Gange war, eine „Publikumsbefragung“ durch. Danach war es „rund um die Mainzer Straße auffallend, daß viele AnwohnerInnen äußerten, daß sie früher sehr gut mit den jungen Leuten zurecht gekommen wären. Aber seit etwa acht Wochen wären neue Leute gekommen, die sich auffallend rüpelhaft, rücksichtslos und frech verhielten. Dies könnte das Ergebnis der Pressehetze sein, aber es ist auch sehr gut möglich, daß hier V-Leute planmäßige Vorarbeit für die Erstürmung der Mainzer Straße leisteten.“6
Verhandelt wird zwar – Verträge gibt es aber nicht
Mit seinem zitierten Rundfunkinterview wiedersprach Mendiburu indirekt der KWV Friedrichshain, die in mehreren Erklärung zwischen dem 14. und 23. Mai 1990 den BesetzerInnen das „zeitweilige Verbleiben in den Häusern“der Mainzer Straße schriftlich zusicherte. Für den Fall einer nötig werdenden Räumung aufgrund von Rekonstruktionsmaßnahmen wurden Ersatzobjekte versprochen und angeboten, „vier Wochen vor dem Termin, an dem Baufreiheit herzustellen ist, die Hausbesetzer zu informieren.“ Bis zu diesem Zeitpunkt sicherte die KWV, namentlich und unterzeichnet vom Betriebsdirektor Dr. Seifert, zu, daß „weder Rat des Stadtbezirks noch KWV gerichtliche oder außergerichtliche Maßnahmen ergreifen“ werden, „die auf eine Räumung der Häuser Mainzer Straße gegen den Willen der Hausbesetzer gerichtet sind.“7
Letztendlich blieben diese Papiere und Erklärungen aber nur Makulatur. Trotz diverser Verhandlungen mit den HausbesetzerInnen, dem Rat des Stadtbezirks, der KWV und ab August mit der dann federführenden Westberliner Wohnungsbaugesellschaft, kam es zu keinerlei wirklichen Vertrags- oder Nutzungsvereinbarungen. Ab dem 27. Juni verhandelte der BesetzerInnenrat erstmals gemeinsam über sein Vertragsgremium mit dem Ostberliner Magistrat eine vertragliche Gesamtlösung. Zu diesem Zeitpunkt waren nicht nur die KWVs bereits durch Westberlin kontrolliert, sondern auch der Magistrat von Berlin (also die Stadtregierung des Ostteils). Die Verhandlungen für den Magistrat führte ab dem 4. Juli 1990 Hugo Holzinger (CDU), ein Beamter der Westberliner Senatsverwaltung. Dieser Mann zeichnete sich vor allem dadurch aus, daß er bereits Anfang der Achtzigerjahre in Westberlin Verhandlungen mit BesetzerInnen geführt hatte (nach Heinrich Lummers „heißem Sommer“). So wundert es auch nicht, daß das Vertragsgremium nach diesem Treffen einschätzte: „hat die Stadt im Augenblick weder ein Interesse noch die Zeit, sich ausführlich mit besetzten Häusern zu beschäftigen.“ Holzinger wurde pro forma vom Ostberliner Stadtrat für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr autorisiert. Neben einer protokollarisch festgehaltenen Nichträumungszusage für den Verhandlungszeitraum, legten beide Seiten im Laufe des Juli 1990 eigene Vertragsentwürfe vor, die aber jeweils abgelehnt wurden.8
Am 24. Juli beschloß der Ostberliner Magistrat eine abgewandelte Version der bereits im Westberlin von Hans-Jochen Vogel (SPD) in direkter Abwehr der dortigen HausbesetzerInnen-Bewegung 1980/81 eingeführten „Berliner Linie“. Diese legte im Wesentlichen einen Stichtag fest, ab dem keinerlei Neubesetzungen geduldet und sofort geräumt werden. In Ostberlin war dieser der Tag ihres Beschlusses.9Über alle zuvor besetzten Häuser sollte weiter verhandelt werden.
Während in Mitte das Haus Oranienburger Straße 86 sofort geräumt wurde, blieb die Neubesetzung in der Friedrichshainer Kinzigstraße 9 – trotz eines sofortigen Räumungsantrags – unangetastet. Die Durchführung einer polizeilischen Räumung des Hauses Niederbarniemstraße 22 konnte durch großen Protest verhindert werden. Auch zwei Neubesetzungen in der Mainzer Straße 22 und 24 blieben zunächst folgenlos.
Am 31. Juli 1990 gerieten die Verhandlungen das erste Mal in die Sackgasse. Vor allem ein zusätzlich aufgetauchtes Problem, die notwendige Winterfestmachung der Häuser, war damit nicht gelöst. Auf Grund des Waffenklirrens seitens des Magistrats beschloß das Vertragsgremium, in die Öffentlichkeit zu gehen. Sein offener Brief an den Magistrat hielt fest: „Die vom Magistrat angekündigte Projektgruppe für Hausbesetzungen hält sich bereits im Voraus für nicht zuständig. […] Politische Handlungsunfähigkeit ist zu bescheinigen. […] Angesichts der bevorstehenden großdeutschen Wahlen ist die Devise: ‚Verhaltet Euch ruhig und friedlich, friedlich, friedlich, dann könnt ihr bis kurz nach den Wahlen in den Häusern bleiben.’ Immer mehr Leute hatten den Eindruck, nur veralbert zu werden. Der Eindruck war richtig, denn der Magistrat war nicht unfähig und auch nicht untätig. Am 10.8.90 nämlich erteilte eben jener Herr Holzinger dem Anwaltsbüro Dr. Knauthe und Partner (Kurfürstendamm 44, 1/15) […] den Auftrag, mittels eines Gutachtens zu prüfen, wie besetzte Häuser nach DDR-Recht, das ja noch galt, zu räumen sind. Das Gutachten wurde mit Datum vom 24.8. durch Herrn Dr. Riebschläger […]) übergeben und in Gesprächen am 3.9. und einem Brief vom 7.9. erläutert. Die Herren kamen zu dem Schluß, daß eine Räumung nach DDR-Recht ‚leider’ nicht möglich wäre, solange nicht die Namen der Besetzer bekannt seien.”10
Im Laufe des August und September wurde zwar weiter verhandelt, jedoch ohne konkretes Ergebnis. Vor allem waren die Vorstellungen, wie ein Vertrag auszusehen habe, zu verschieden. Das, was Magistrat und Senat bereit waren, zuzugestehen, lag weit hinter dem, was für die besetzten Häuser akzeptabel war. Letztendlich wollten die BesetzerInnen unbefristete Verträge, mögliche Überlegung war unter anderem eine Erbpacht auf 99 Jahre. Magistrat und Senat wollten nur eine befristete Nutzung zwischen ein bis drei Jahren und ortsübliche Mieter-Einzel-Verträge einräumen; beides wurde mit immer gleichen Totschlagargumenten begründet. Bei Vertragsverhandlungen am 14. September wurde den HausbesetzerInnen von einem Beauftragten der GSW „vorgeworfen, daß wir keinerlei Sonderrechte hätten, da wir uns mit unserem Vorhaben ja an der langen Warteschlange der vielen Wohnungssuchenden vorbeischummeln würden. […] Auf unsere provokante Frage, weshalb er denn dann mit den Westberliner Besetzern überhaupt verhandeln würde, erwiderte Herr Zumholz, daß die Verhandlungen mit Westbesetzern nur zur Beruhigung der Szene dienen würden. Es gäbe ja politische Vorgaben zu Verhandlungen, denen man sich nicht entziehen könne.“11
Die HausbesetzerInnen begleiteten ihre Vertragsforderungen mit diversen Demonstrationen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Am 25. September wurde letztmals durch den Beauftragten des Berliner Magistrats, Herrn Martini, eine „in beiderseitigen Interesse“ liegende Vereinbarung in Aussicht gestellt, die am 4. Oktober unterschriftsreif sein würde. Dazu ist es bekanntermaßen nicht gekommen. Am 08. Oktober wurde den VertreterInnen des Vertragsgremiums durch Herrn Martini erklärt, daß eine Vorvereinbarung nicht zustande kommen werde, der Magistrat daran auch kein Interesse habe und es folglich zu diesem Thema keine Gespräche mehr geben werde. Außerdem verhandle man sowieso nicht mit anonymen Gremien.
Zu diesem Zeitpunkt vertrat der BesetzerInnen-Rat nur noch 88 Häuser. Die anderen Häuser waren bereits ausgestiegen und hatten ihr Glück in Einzelverhandlungen und individuellen Verträgen gesucht. Und – das BesetzerInnen-Gremium war zu diesem Zeitpunkt bereits von internen Streitereien zerfressen, die spätestens Juli/August ausgebrochen waren und bis in den Oktober und November hinein geführt wurden. Anlaß waren, vorsichtig ausgedrückt, unterschiedliche Vorstellungen von der Art und Weise, in der politische Diskussionen geführt werden. Leute aus Ostberlin warfen den „WestlerInnen” Mackerverhalten und Besser-Wessi-Tum vor. Die wiederum konterten vor allem an die Adresse der VertreterInnen aus dem Prenzlauer Berg mit Vorhaltungen über ihr „Sektierertum“. Inhaltliche Auseinandersetzungen über die Vorwürfe wurden nicht geführt. Dem Unverständnis der einen stand die Arroganz und der Verweis auf längere politische Traditionen der anderen gegenüber. Aus dem Riß innerhalb des Rates wurde schnell eine tiefe Kluft. Eine mindestens informell wichtige Struktur der BesetzerInnenbewegung löste sich so aus kleinlichen Gründen und menschlichem Unvermögen langsam selbst auf. Einzig ein neuer Terminus war in die Diskussion autonomer Zusammenhänge in Berlin neu eingebracht worden: der „Ost-West-Konflikt“.
Geräumt wird auf jeden Fall
Zu diesem Zeitpunkt hatte die monatelange Hinhaltetaktik der Zuständigen in den Bezirken, im Magistrat und Senat, Früchte getragen. Die BesetzerInnen standen mit leeren Händen da; der bundesdeutsche Staat war am 3. Oktober 1990 mit viel Feuerwerk, sehr viel Blaulicht, geschwungenen Knüppeln und Tränengas endgültig über den Osten Berlin gekommen: „Mich hatte schon am 2. und 3. Oktober ziemlich erschreckt, mit welcher Riesenpräsenz diese Polizei, von der Westseite kommandiert, aufgetreten ist. Wie sie die Leute auseinandergetrieben haben und sich überhaupt aufgeführt haben wie die Herren im Lande!“12
Nun wurden andere Saiten aufgezogen. Jetzt hatte der Senat nicht mehr nur den Willen, sondern endlich auch die Möglichkeiten, massive Räumungsaktionen mit entsprechenden Polizeimaßnahmen abzusichern und durchzusetzen: „Man hat damals probiert, die staatliche, die polizeiliche Macht auszutesten, und man hat das am schwächsten, am umstrittensten Teil der Bevölkerung – eben den Hausbesetzern getan.“13
Die Berliner Polizei war dafür bestens gerüstet und hatte, schon Wochen vorher, ausgiebig die Räumung großer Ansammlungen von Häusern trainiert. Eigens dafür hatte man sich bei den US-Streitkräften eingemietet, die damals in Berlin-Gatow über ein spezielles Häuserkampf-Gelände verfügten.
Und: „bereits Mitte September war von Amtsträgern des Stadtbezirks Berlin-Lichtenberg eine Information über Einsichtnahme in polizeiliche Einsatzpläne lanciert worden, in denen davon ausgegangen wurde, daß nach einer Räumung von nach dem 24.07. besetzten Häusern in der Pfarrstraße, für die Räumungsbegehren vorlagen, vermutlich um die Mainzer Straße Unruhen ausbrechen würden, die eine Räumung nach Polizeirecht möglich machen könnten. Als Zeitpunkt für die Umsetzung dieses Einsatzplanes wurden der 4. und 5. Oktober benannt.“14
Der Berliner Senat und natürlich auch die BRD-Regierung konnten und wollten besetzte Häuser in Berlin keinesfalls dulden, und eine solcherart kompakte Konzentration schon gar nicht. Die Vorstellung, „eine größere, für den Staat schon nicht mehr überschaubare Gruppe“15 würde sich aus ihm ausklinken, ist für Herrschende allgemein unvorstellbar und deshalb auch nicht diskutabel. Also hat man „versucht Dinge zu beenden, ohne daß eine kontroverse Diskussion sowohl über Ziele und Inhalte von Hausbesetzungen als auch über die staatlichen Mittel dagegen geführt werden konnte. Und man mußte auch selbst die Diskussion über und mit Hausbesetzern, über die Probleme von Jugendlichen nicht führen und konnte die eigene Konzeptionslosigkeit ganz gut verstecken.“16
Für den Machtapparat war klar – und daran hat sich natürlich bis heute nicht geändert –
„daß jeglicher Ansatz von politisiertem, selbstbestimmtem Leben nicht geduldet wird. Dabei geht’s denen wahrscheinlich weniger um die Durchsetzung dessen, was sie Recht und Gesetz nennen, als um die Außenwirkung, die davon ausgeht, wenn Menschen ihre Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen selbst in die Hand nehmen. Das ist für die offensichtlich zu gefährlich. Weil sie auch ganz genau wissen, es gibt viele unzufriedene Mieter in Berlin, die jetzt immense Mietsteigerungen zu erwarten haben, denen wahrscheinlich jedes halbe Jahr mal eine Mieterhöhung ins Haus flattert, bis auf Weststandard. Das können die auf die Dauer nicht mehr zahlen, besonders, wenn sie noch arbeitslos werden. Der Wohnungsmarkt, so wie er im Westen läuft, ist eine unheimlich brutale Sache. Es gibt eine Million Obdachlose in Westdeutschland. Offizielle Statistik. Und es werden immer mehr, gerade in Großstädten. Und das Signal von Hausbesetzern ist: Wir nehmen uns die Häuser, bauen uns da ein eigenes Leben auf. Das haben die Herrschenden schon richtig verstanden. Sie haben’s auch beantwortet mit ihrer Räumung. Und der Polizeieinsatz, der hat auch gezeigt, und ich glaube, das war auch beabsichtigt, wie eben mit Leuten, die nicht alles schlucken, umgegangen wird – nämlich mit polizeistaatlichen Mitteln. Und das wird in Zukunft hier nicht nur Hausbesetzer betreffen, das kann auch Streikende betreffen.“17
Aus heutiger Sicht war diese Aussage schon fast visionär, wenn man die Mietenexplosion im Osten und die damit einhergehende Verdrängung ganzer Mieterschichten aus den Innenstädten betrachtet. Spätestens seit Ende der Neunzigerjahre wird diese Entwicklung allgemein als Gentrifizierung bezeichnet, oder auch Gentrification, wenn man es lieber englisch mag.
Was die mögliche Niederschlagung von Arbeitskämpfen mit polizeilichen Mittel angeht, so ist diese in Deutschland bisher weitestgehend ausgeblieben. Schlicht und ergreifend mangels Notwendigkeit. So muß man leider zur Kenntnis nehmen, daß sich die Millionen Ostdeutschen in den Jahren nach der Angliederung an die BRD ihre ursprünglichen ökonomischen Grundlagen ohne Murren haben wegnehmen lassen. Gelegentliche Ausnahmen wie im Fall Bischofferode bestätigen hierbei wieder einmal nur die Regel.18
Mehrheitlich hat die Bevölkerung der Zerschlagung der ostdeutschen Industrie tatenlos zugesehen. Einer Industrie, die eben nicht samt und sonders marode und unwirtschaftlich war. Weitestgehend sind es auch ihre effektiven Teile gewesen, die für westdeutsche Konzerne als Wettbewerber hätten gefährlich werden können und deshalb mit Hilfe der Treuhand ausgeschaltet beziehungsweise billig angeeignet wurden. Betrachtet man die Entwicklung auf dem Land und die heutige Majorität der in Genossenschaften umgewandelten DDR-LPGs, so läßt sich erahnen, was an industriellem Potenzial aus blanker Konkurrenzangst, gepaart mit Siegermentalität, in dem Jahrzehnt nach 1990 vernichtet wurde – von den Arbeitsplätzen und an ihnen hängenden menschlichen Existenzen ganz zu schweigen. Umso erstaunlicher bleibt –
im rückblickenden Kontrast auf die BesetzerInnenbewegung – die massenhafte Apathie und Untätigkeit der Betroffenen. Sicherlich ist das auch ein Erbe der SED, aber wohl auch von Nazizeit und Kaiserreich, sowie das Resultat einer handzahmen und zahnlosen deutschen Gewerkschaftsbewegung, die sich schon unter Otto von Bismarck an die Kette hat legen lassen. In vielen anderen Ländern Europas wäre das so nicht geschehen. Das beste aktuelle Beispiel ist hier sicher Griechenland. Aber auch in Italien, Spanien und Frankreich werden Arbeitskämpfe deutlich heftiger ausgetragen, dabei oftmals auch militant.
Warum wurde geräumt? Weil die SPD es so wollte!
Egal, wie man zur Polizei als solcher steht, ob man Ihren Einsatz in der Mainzer Straße als richtig und wichtig verteidigt; oder als überzogen, martialisch, brutal und gewalttätig bewertet – eines sollte klar sein: Polizei war und ist in der Regel nur ein Erfüllungswerkzeug der jeweils herrschenden Macht. Und wenn man eben nicht davon ausgeht, daß wir in einer sogenannten Bananenrepublik leben, sondern in einem weitestgehend demokratisch regierten Land leben, dann gilt und galt das auch damals für die BRD. Vor diesem Hintergrund und alle Aspekte und Aussagen von SPD-unabhängigen Politikern und Zeitzeugen aus der damaligen Zeit berücksichtigend, bleibt nur ein Schluß, daß die Mainzer Straße nicht geräumt wurde, weil ominösen Gerüchte zufolge eine mittlere CDU-dominierte Polizei-Ebene gegen den damaligen rotgrünen Senat geputscht hätte. Sondern geräumt wurde, weil die
Berliner SPD-Führung um den regierenden Bürgermeister Walter Momper den Befehl gab und dies auch unbedingt so wollte. Und das in Ausklammerung und Aushebelung des kleinen Regierungspartners Alternative Liste, des Abgeordnetenhauses, sowie natürlich der Politiker in den Stadtbezirken. Und, weil es auch keine Diskussions- oder Kompromissbereitschaft seitens der SPD-Führung gab, die sich zudem während des Räumungseinsatzes der Polizei tagelang versteckte, verleugnen ließ und die gesamte Verantwortung auf die Polizei abschob. Die Aussage des damaligen Chefs des Ostberliner Magistrats, Thomas Krüger (SPD), daß die Politik sich zurückhält, wenn die Polizei handelt, ist ausgemachte Einfalt und war nichts weiter als eine plumpe Schutzbehauptung. Daß die gesamte
Führungsspitze der Berliner SPD nicht einmal für Renate Künast (seinerzeit Chefin des Koalitionspartners Alternative Liste) zu sprechen war, belegt: die SPD glaubte, mit einer überzogenen Law-and Order-Strategie bei den Berliner WählerInnen derart punkten zu können, daß man zukünftig auch auf die AL verzichten könne. Das Ergebnis ist bekannt – Rotgrün flog nach der Räumung der Mainzer auseinander, und aus den folgenden Neuwahlen ging die SPD nur noch als kleiner Koalitionspartner der CDU hervor. Leider dumm gelaufen, Herr Momper. Oder schlechter als erhofft.
Eine Frage der Gewalt!?
Die Sympathisanten der revolutionären Kommunisten (BRD), eine maoistische Gruppe, zog nach der Räumung in einem Flugblatt aus den damaligen Ereignissen in der Mainzer Straße die folgende Lehre: trotz Panzer, Tränengas, Gummigeschoßen und scharfer Munition habe die Polizei drei Tage gebraucht, um die Mainzer Straße zu räumen. Und kühn folgerten sie, um der Polizei überlegen zu sein, müsse man Schusswaffen benutzen, „denn politische Macht wächst aus dem Gewehrlauf, sagte schon Mao Tse-tung“.
Dem entgegnete unser damaliger telegraph-Redakteur Wolfgang Rüddenklau: „Das ist natürlich ein verhängnisvoller Fehlschluß. Nur ein einziger Schuß seitens der BesetzerInnen hätte es der Polizei ermöglicht, ihr ganzes Inventar an scharfen Waffen in Betrieb zu nehmen, nicht zu denken an den in Reserve stehenden Bundesgrenzschutz.19 Nach einem solchen Schuß wäre die Mainzer Straße innerhalb einer Stunde geräumt und zerstört worden, mit einer großen Anzahl von Toten seitens der VerteidigerInnen.
Eine militärische Verteidigung selbst von Hunderttausenden gegen die Gewaltmittel des Staates ist derzeit mindestens in (West- und Mittel-)Europa unsinnig und undenkbar. Wenn die Mainzer Straße eines gezeigt hat, so dies: eine militärische Auseinandersetzung mit den bis an die Zähne bewaffneten paramilitärischen Polizeitruppen des Staates wird immer mit einer Niederlage enden. Jeder außer Gefecht gesetzter Polizist wird mühelos durch zehn, dann hundert und schließlich hunderttausende mit den modernsten Räumungs- und Tötungstechniken ausgerüsteten Polizisten und Soldaten ersetzt werden.“20
Wenn es aber also eine Chance, die Mainzer Straße militärisch erfolgreich zu verteidigen und die paramilitärisch hochgerüstete Polizei der BRD zu schlagen, für die BewohnerInnen und VerteidigerInnen der Mainzer Straße nie gab – warum wurde trotz allem diese Option als einzig mögliche in Betracht gezogen? Aus heutiger Sicht ist ein militärischer Sieg überhaupt nicht einkalkuliert gewesen. Der militante Widerstand zwischen dem 12. und 14. November 1990 war offensichtlich nichts weiter als pure und auch verzweifelte Selbstverteidigung gegen eine, in dieser Form wohl vorher noch nie zum Einsatz gebrachte Militärmaschinerie, die bis zum Äußersten bereit war, die herrschaftlichen Ansprüche auf die Mainzer Straße und auf die Menschen darin durchzusetzen. Der Widerstand war aber auch von der leider falschen Hoffnung getragen, die Personen, die dann letztendlich den Einsatz eben jener Maschinerie befehligten, würden in letzter Konsequenz davor zurückschrecken und eine Verhandlungslösung suchen. Bei vielen war der Widerstand auch von der im nachhinein leider sehr naiven Hoffnung getragen, der Aufmarsch der geballten Macht der Berliner und Bundesdeutschen Polizei würde in der Ostberliner Bevölkerung erneut den Geist des Herbstes 1989 heraufbeschwören und eine massenhafte Solidaritätswelle auslösen, die zu einem, wie auch immer gearteten, Sieg führen könnte . Zu diesem Zeitpunkt der Räumung sahen die BesetzerInnen und VerteidigerInnen für sich gar keine andere Möglichkeit mehr. Ihr Handeln war für ihr Selbstverständnis „alternativlos“:
„Ich geh‘ da von meinem Gefühl aus. Und da gab’s ’n schönen Satz von Herrn Lummer (ehemaliger Innensenator in Westberlin). Herr Lummer ist mal gefragt worden, wann ihm am unsichersten war in seiner Dienstzeit. Und da sprach er davon: als der U-Bahnhof Dahlem brannte. Das heißt also, daß ich Politikern, den eigentlichen politisch Verantwortlichen, tausend Flugblätter ins Haus schicken kann, mit denen kann ich zwanzig Diskussionen durchführen – das interessiert die überhaupt gar nicht, oder nur ganz, ganz wenig. Wenn es die Möglichkeit geben würde, Aktionsformen zu finden, die Sachschaden in Millionenhöhe hervorrufen, ohne Teile der Bevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen, würden, glaube ich, die Interessen der Politiker schon anders aussehen. Aber diese Art von Aktionsformen zu finden, ist kompliziert. Mensch muß überlegen, wann er Risiko tragen kann.
Ich für meine Überlegungen sage allerdings, daß das Risiko, das die Polizei oder der Staat eingegangen ist bei der Räumung, durchaus für mich auch tragbar ist. Diese Aktionsform, die ich mir vorstellen könnte, muß natürlich so geführt werden, daß ich den Staat provoziere, sein System aufzufahren, zum Beispiel sein Gewaltsystem
aufzufahren. Denn: 16 Millionen Neubürgerinnen in der Bundesrepublik sind sich über diese Gewaltsysteme überhaupt nicht im Klaren. Ob der Staat seine Gewalttätigkeit unter der Decke durchführt und somit für jeden unsichtbar, aber doch fühlbar ist – oder ob ich jeden Tag auf dem Alex stehe und neben mir steht ein Panzer: das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Reaktion der Bevölkerung darauf hat man bei der Demo vor 14 Tagen gesehen (15. November 1990), Sonntag auf dem Alex, wie da auf einmal drei BGS-Panzer standen. Es waren nicht nur BesetzerInnen und SympathistantInnen, die da standen. Es waren nicht nur sie, die diese Panzer zurückgedrängt haben. Warum wohl? Weil das Auffahren von Gewalt, das Darstellen von Gewalt durch Material, etwas ganz anderes ist. Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr, der Bevölkerung klarzumachen, daß auch sie auf die Straße gehen muß. Das kann ich momentan nur erreichen, indem ich den Staat zwinge, sein Gewaltpotential aufzufahren. Und ihn so stark zwinge, daß der Bevölkerung das bis hier steht. Entweder die Bevölkerung ist dann so schlapp, daß sie in Angst verfällt, oder sie begreift sich wieder als das, als was sie sich mal begriffen hat, nämlich als das Volk.“21
Interessant an dieser Argumentation ist, daß unser telegraph-Redakteur Wolfgang Rüddenklau, damals wie heute überzeugter Anarchist, DDR-und BRD-Oppositioneller, gleichzeitig aber auch kategorisch gewaltfrei, bei offensichtlich ähnlicher Zielstellung zu völlig anderen Schlüssen kommt. Er schreibt nämlich: „Die einzige Chance des Widerstandes gerade hier auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ist und bleibt, auch das neue Regime an seinen moralischen Ansprüchen zu messen, ihm die humane Maske abzureißen und aller Welt zu zeigen, daß hier eine brutale Unterdrückungsmaschine wehrlose Menschen niederwirft. Das führt nicht nur, wie wir im Herbst letzten Jahres sahen, zur Unglaubwürdigkeit des Regimes, sondern eben auch zur Zersetzung der Moral der Sicherheitskräfte.
Die Verteidigung der Mainzer Strasse hätte wahrscheinlich weniger lang gedauert, wäre aber in ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit sehr viel größer gewesen, wenn die VerteidigerInnen auf jegliche Gewaltmittel wie Steine, Zwillen und Molotow-Cocktails verzichtet hätten.“
Das allerdings hätte vorausgesetzt, daß die sogenannten Sicherheitskräfte der neuen Ordnung über eine ähnliche, oder besser über irgendeine Moral verfügten, die man dann so wie bei den Sicherheitskräfte der DDR gesehen, zersetzen hätte können. Denn die Art und Weise, wie gewalttätig und ignorant die Polizeieinheiten mit friedlichen Protest und Widerstand, nicht nur in unmittelbar um die Mainzer Straße, sondern auch später umgingen, läßt vermuten, daß die Moral hier vielleicht gerade mal auf Verachtung basiert. Wahrscheinlich aber ist es so, daß besonders diese entsprechenden Einsatzkräfte durch ihre Ausbilder und Kommandeure von vorne herein derart geistesentleert und systematisch auf Gewalt und Krawall gebürstet werden, daß sie auf eine solche „gewaltfreie“ Verhaltensweise eher belustigt, vielleicht desinteressiert, wohlmöglich aber noch aggressiver und gewalttätiger reagieren. Wenn man sich die gewaltfreien Proteste in Gorleben oder beim G8-Gipfel in Heiligendamm ansieht, kann man sich nur wundern, wie sich die ProtestiererInnen zu Hunderten und Tausenden, gleich Opferlämmern gewaltfrei sitzend, den Wasserwerferkanonaden und Gewaltexzessen der Polizei aussetzen. Und das letztendlich auch immer ohne Erfolg, ohne, daß ein breiterer Protest induziert wird; oder daß die – mutmaßliche – Moral der prügelnden Polizisten auf den Prüfstand gestellt wird. Im Gegenteil: auch diese friedlichen ProtestierInnen werden in der Öffentlichkeit als schlimme Gewalttäter diffamiert. In bitter-ironischer Weise selbst von Leuten, die Teil des „friedlichen“ Protestes im Herbst 1989 waren, oder in den Siebziger- und Achtzigerjahren zur Antikriegs-und Anti-AKW-Bewegung der BRD gehörten. Ja, selbst von Leuten, die angesichts der von der SPD im Alleingang befohlenen Gewalt in der Mainzer Straße die rotgrüne Regierungskoalition in Berlin haben platzen lassen. Und selbstverständlich muß man immer wieder sagen, daß der Vergleich zwischen dem Herbst 1989 und der Mainzer Straße November 1990 nicht einfach hinkt, sondern vollkommen untauglich ist. Die Gründe dafür sind offensichtlich. Für die BesetzerInnen und VerteidigerInnen der Mainzer Straße lagen sie klar auf der Hand.
„Der Unterschied zu Aktionen, die im Oktober 1989 durchgeführt worden sind, ist schon erheblich. Meine Mutter hat mir vorhin am Telefon gesagt, die hätten in der Mainzer gleich ’n paar Leute erschießen sollen. Die ist aber im Oktober auch auf die Straße gegangen. Ich muß dazu sagen, in Berlin haben die noch ein anderes Verständnis als zwanzig Kilometer weg. Die weiter weg von Berlin wissen ja gar nichts über die Mainzer Straße, die wissen ja nur, was in der Zeitung gelesen haben: daß da mordlüsterne Chaoten waren […].
Es gibt Menschen, die fallen in Ohnmacht. Gut. Ich kann das leider nicht. Ich versuch das immer wieder, wär’ schon auf manchem Plenum gerne mal in Ohnmacht gefallen. Aber das klappt einfach nicht. Aber dann habe ich gesehen, wie die Staatsgewalt die Kette mit Bohley weggespritzt hat. Und da war mir klar, was es heißt, noch friedlich dazustehen: das interessiert die gar nicht. Das war im Oktober ´89 etwas ganz anderes. Da haben aber 20, 30, 40, 50.000 gestanden. Aber wie es jetzt ist, gehen soviel Menschen nicht mehr auf die Straße. Die Leute haben gar nicht die zeit, darüber nachzudenken. Sie müssen ja noch Weihnachtseinkäufe machen .“22
Und wie Wolfgang Rüddenklau eben seinerzeit im telegraph schrieb: Die „Sicherheitskräfte“ der DDR hatten offensichtlich so etwas wie Moral, an der man ansetzen konnte.
Ähnlich irrige, wenn nicht sogar falsche Argumente und Hoffnungen, wie sie unser ehemaliger Kollege Wolfgang Rüddenklau damals im telegraph vertrat, artikulierte sich in der Kritik über die „Gewaltbereitschaft“ und Militanz der BesetzerInnen und VerteidigerInnen der Mainzer Straße, die von Seiten der so genannten DDR-BürgerrechtlerInnen23 vom Neuen Forum und Bündnis 90 vehement vorgebracht wurde. Besonders jene, die in den Tagen der Räumung um eine friedliche Lösung bemüht waren und mit Formen des gewaltfreien Widerstandes vor der Mainzer Straße agierten, waren von einem Glauben beseelt: dem, daß sich ihre Erfahrungen in der Wende, mit dem sterbenden Staat DDR, einer handlungseingeschränkten SED-Regierung, einer verunsicherten Führung von Volkspolizei und Volksarmee; Machtstrukturen also, die an ihr Ende angekommen, lieber fast vollkommen passiv den Verlust ihrer Macht24 zusahen und eben nicht derart gegen ihr eigenes Volk vorgegangen sind, wie es zum Beispiel ein Jahr zuvor die chinesischen Machthaber auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking25 getan hatten, könne man 1:1 auf bundesdeutsche Verhältnisse übertragen. Um so erstaunlicher ist die Naivität, mit der prominente VertreterInnen der DDR-Bürgerbewegung, wie zum Beispiel Reinhard Schult oder Bärbel Bohley, auch nach der Räumung der Mainzer Straße weiter unerschütterlich daran festhielten, daß der einzig richtige Weg in der Mainzer Straße der gewaltfreie Protest gewesen wäre. Und das, nachdem sie dort selbst und am eigenen Leibe erfahren mußten, daß sich der Apparat der BRD, erst einmal in Stellung gebracht und von der Kette gelassen, durch Rufe wie „Keine Gewalt“ überhaupt nicht beeinflussen läßt, sich nicht einmal dafür interessiert. Und diese Form selbsterlebten, gewaltfreien DDR-Widerstands schlicht und einfach von der Straße fegt. Reinhard Schult, im Berliner Abgeordnetenhaus für das Neue Forum erinnerte sich noch frisch Ende November 1990: „Gegen 17 Uhr [12. November 1990, d.A.] waren wir wieder in der Mainzer Straße. Unsere Vorstellung war, wir müßten uns als Gruppe zwischen die Polizei und die Besetzer schieben. Leute hatten ein Transparent ‚Keine Gewalt!’ mitgebracht und die Fahne ‚Schwerter zu Pflugscharen’. Zwischendurch waren Mendiburo und Abgeordnete des Stadtbezirks dagewesen, erfuhr ich später. Die hätten sich intensiv um Friedlichkeit bemüht und mit einigen Einsatzleitern gesprochen. Dann habe es aber prompt den nächsten Angriff der Polizei gegeben. In der Scharnweberstraße, nachdem man Mendiburo versichert hatte, es würde keinen Einsatz mehr geben. Gleichzeitig hat es da schon am Nachmittag einen Versuch von Abgeordneten gegeben, eine Menschenkette zu bilden, die wurde einfach weggespült. […]
Gegen Fünf Uhr [14. November 1990, d. A.] sind dann viele Leute erschienen. Gegen sechs kam das Signal: Die rücken an! Wir haben uns in zwei Gruppen geteilt, eine ist in die Boxhagener, eine zur Frankfurter Allee. Wir haben dann mit Megafon mehrfach verlangt, die Einsatzleitung zu sprechen. Dann haben wir uns als Vermittler angeboten. Dieses Angebot haben wir mehrfach per Megafon an die Polizei gerichtet. Wir haben dann gesagt, daß zwei Leute von uns rüberkommen als Verhandler.
Wir haben also als Kette zwischen der Barrikade und der Polizei kurz vor der Frankfurter Alle gestanden. Es war der Polizei klar, daß in der Kette Abgeordnete der Stadtverordnetenversammlung und der Bezirksversammlung waren. Und eine halbe Stunde sind wir da gestanden, und in dem Moment, als die beiden Verhandler rübergegangen sind, ist das Signal zum Angriff gekommen. Man hat überhaupt nicht reagiert auf uns. […] Ja, es wurde weder auf uns, noch auf die Gruppe in der Boxhagener reagiert. Im Prinzip griff man uns mit dem Wasserwerfer an. […] Es wurde langsam ungemütlich, wir sind dann zur Seite geflitzt. […] Es wurde immer gefährlicher, denn die Polizei schoß immer wilder mit Tränengasgranaten.“26
An dieser Stelle ist unbedingt erwähnenswert, daß nicht automatisch alle VertreterInnen der als Bürgerbewegung bezeichneten DDR-Opposition gegen die militante Verteidigung der Mainzer Straße waren und dieses selber auch dort aktiv vertraten. Während der drei Tage standen hinter den Barrikaden unter anderem auch Mitarbeiter und Aktivisten der alten und neuen Umweltbibliothek, der Kirche von Unten, der Antifa Ostberlin, der Offenen Arbeit Erlöser und der Vereinigten Linken. Zum Beispiel wurde die Barrikade in der Scharnweber Straße bis zum Schluß von jenen Leuten der ehemaligen DDR-Opposition verteidigt.
Autonome HausbesetzerInnen und Bürgerbewegte ParlamentarierInnen – ein Verhältnis wie Feuer und Wasser
Reinhard Schult behauptete im November 1990, daß die BewohnerInnen der Mainzer Straße „keine gesellschaftliche Perspektive hätten“, da sie nicht an Vermittlungsgesprächen und einem Dialog mit Neonazis interessiert wären, den die BürgerrechtlerInnen kurz nach Pfingsten 1990, infolge mehrerer Naziangriffen auf die Häuser, anregten. Zwar konnte er das auf Nachfragen nicht wirklich fundiert belegen, sondern schob einfach weiter nach. Und zwar behauptete Schult, er hätte in Gesprächen feststellen müssen, daß die Hausbesetzer „keine Hoffnung in die gesellschaftliche Entwicklung“setzen würden „so daß für sie das Konzept Bürgerbewegung nicht akzeptabel war, sie hielten das für Schwachsinn. Sie wollten nicht an einen Tisch mit allen möglichen Leuten. Es waren auch viele Leute aus dem Westen da, die ihre Erfahrungen mit der Polizei hierher übertrugen. Mit diesen ihren Vorstellungen und Erfahrungen lagen ihnen so etwas wie Reden mit der Polizei, Sicherheitspartnerschaft und ähnliche Sachen weit fern.“ Abgesehen davon, daß auch Reinhard Schult damals den politischen Konflikt zwischen Linken und Rechten, Nazis und AntifaschistInnen leider auch, wie viele andere PolitikerInnen und BürgerrechtlerInnen, als ein Jugendproblem herunter wiegelte, welches man eben an einem Runden Tisch besprechen und mit sozialer Jugendarbeit beilegen könne, übersah Reinhard Schult, daß gegenteilige Positionen eben nicht nur von Westlern, sondern vielen Ostler vertreten wurden (und das auch schon vor dem Herbst 1989). Von seiner Warte her sicher logisch, ging er
von der dennoch falschen Vorstellung aus, die Ideen und der Weg der Bürgerbewegung seien die einzig richtigen. Ausgesprochen engstirnig, wenn nicht sogar dogmatisch, bleibt es trotzdem. Er sprach den HausbesetzerInnen eben gerade die ureigenen gesellschaftlichen Vorstellungen ab, die freie, libertäre und emanzipatorische Linke schon immer formuliert haben. Literatur, die dies zu Genüge belegt, gibt es reichlich. Wird diese überhaupt zur Kenntnis genommen und akzeptiert, ist die andere Frage. Und das muß man für Reinhard Schult, Bärbel Bohley und die Bürgerbewegung klar verneinen. Denn wo gesellschaftlich-politische Verhältnisse, die auf bürgerlichen Parlamentarismus und den damit verbundenen engen staatlichen Machtstrukturen (dazu dem weitestgehend globalisierten, kaum regulierbaren kapitalistischen Wirtschaftssystem) als gegebene Grundlage gesetzt werden, fehlen die nötige Phantasie und der geringste Wille, radikal anders zu denken. Jedwede
TrägerInnen einer Gesellschaftsordnung, die diese mit absoluter Vehemenz als alternativlos darstellen, sind natürlich nicht im Geringsten bereit oder gar in der Lage, über alternative Gesellschaftsmodelle nachzudenken. Im Gegenteil, sie diffamieren diese auch immer als Flausen, Spinnereien, unsinnige Experimente. Oder im Fall von Reinhard Schult als „gesellschaftlich perspektivlos“. Der große übrige Rest der Bürgerbewegung tat und tut sich da nicht besser hervor: in der Regel als außerparlamentarische Opposition startend, begibt sie sich meist schnell in die Zwänge und Mühlen des bürgerlichen Parlamentarismus, um sich diesem letztendlich auch bedingungslos zu unterwerfen, im Fall der Grünen sogar bis zur vollständigen Selbstaufgabe und Umkehr der ursprünglichen Gründungsideale. Nicht viel anders, wenn auch politisch nicht so erfolgreich, muss man das bei den Organisationen der ostdeutschen Bürgerbewegungen feststellen. So zum Beispiel Bündnis 90 und Demokratie Jetzt, die sich über Wahlbündnisse von etablierten bürgerlichen West-Parteien, wie der CDU und Grüne Partei, erst vereinnahmen , dann schlucken und zuletzt bis zur Unendlichkeit assimilieren ließen.
Schlußbemerkung
Nach 25 Jahren ist die HausbesetzerInnnenbewegung der Neunzigerjahre nicht viel mehr als ein Mythos. Die Mainzer Straße ruft bestenfalls ein flüchtiges Leuchten in den jungen Augen heutiger Yuppie-Hipster-Antifas hervor; den alten Squatter-Veteranen verschafft sie ein warmes, wohliges Bauchgefühl. Schon zur Demonstration zum fünften Jahrestag der Räumung der Mainzer Straße, am 12. November 1995, erschienen gerade mal 300 Leute. Mehrheitlich eher Kids, die die HausbesetzerInnenbewegung bestenfalls als Zaungäste erlebt hatten.
Trotz allem verlieh die HausbesetzerInnenbewegungen in Berlin 1990 und 1980/81 der gesamten linksradikalen Szene Deutschlands wichtige Impulse. Die Neunziger-BesetzerInnen-Welle schwappte sogar in andere Teile des Ostens. Vor allem junge Leute, inspiriert durch die Vorgänge in Ostberlin, besetzten auch in anderen Städten wie Jena, Erfurt, Weimar, Dresden, Leipzig, Halle, Magdeburg, Potsdam, Straußberg, Eberswalde, Frankfurt/Oder, Rathenow, Neuruppin, Greifswald, Rostock Häuser und schufen dort ein ganz neues und wichtiges sozio-politisches Umfeld.
Und zumindestens konnte ein beträchtlicher Teil dieser Häuser und Freiräume über längerfristige Vertragsabschlüsse, oder aber letztendlich auch durch syndikalistischen Kauf, gesichert und bis in die heutige Zeit bewahrt werden – einsame und um so wichtigere linksradikale Inseln, von denen man sich aber nicht täuschen lassen sollte: viele der Ziele und Hoffnungen auf selbstbestimmtes Leben, gerechte Lebensbedingungen und bezahlbare Mieten, in einer Gesellschaft wie Deutschland und im speziellen in einer Boom-Stadt wie Berlin, haben sich als Trugschluß und nicht umsetzbar erwiesen. Im Gegenteil: ungezügelte Mietenexplosion, skrupellose Verdrängung, Obdachlosigkeit, Armut und Elend haben Berlin heute noch Meilen weiter von dem entfernt, für das HausbesetzerInnen 1990 und /1980/81 in Berlin eingetreten sind und gekämpft haben. Und die Situation verschärft sich ja tendenziell weiter. Ein Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht in Sicht. Ist das richtige Leben im Falschen letztendlich doch nicht realisierbar? Warum also ein Haus besetzen? Sollte man nicht lieber das System abschaffen?
Auf diese Frage antworteten einige ehemaliger Hausbesetzer 2011 wie folgt:
Sascha: Sollten wir keine Häuser besetzen, weil es das Falsche im Falschen ist?
Rüdiger: Ach, das kann man doch bei ganz vielen Fragen sagen; ich bin Kommunist und ehe dieses Schweinesystem nicht abgeschafft ist, wird sich nichts verändern und sitze hier Café trinkend herum und leckt mich am Arsch. Kann man so machen.
Sascha: Den Punkt hatten wir ja schon mal, daß die Hausbesetzer nicht primär politisch waren, sondern für die meisten Leute auch einfach fun und eben Häuser besetzen. Genauso wie Antifa ja auch nicht nur ein politisches Ding ist, sondern auch einfach Sport – Nazis auf´s Maul hauen. Und genau deswegen hat das doch funktioniert! Weil es nicht nur politisch gewesen ist, sondern weil es die Leute selbst ganz konkret betroffen hat. Deswegen war das doch eine der wenigen linken Erfolgsgeschichten. Weil es uns betroffen hat als Leute und unsere eigenen Interessen. Und politisch oder nicht – who cares?
Andrej: Ja, das hatten wir vorhin glaub ich auch schon mal, daß wir halt nicht gesagt haben, wir besetzten jetzt Häuser, um das ganze System zu kippen. Sondern wir wollten uns eine Gegenwelt schaffen, und da haben wir auf Hausebene und auf Besetzerräten miteinander ausgehandelt, wie das funktionieren soll. Aber wir hatten nicht diesen missionarischen Eifer, daß wir dachten, die ganze Gesellschaft soll so leben wie wir.
Wolfram: Du kannst zu fast jeder politischen oder sozialen Bewegung immer die Frage stellen: Warum stürzen sie denn gottverdammt nicht das System?! Die Frage ist auch legitim. Aber die legitime Antwort darauf ist doch auch: Leck mich mit deinen Fragen am Arsch. Weil, ich wollte es vielleicht nicht. Oder es geht dich einen Scheißdreck an oder ich hab es nicht gekonnt. Oder es hat nicht geklappt. Und daß das kapitalistische System quasi pfiffig genug ist, jede dieser Bewegungen so zu integrieren, daß sie auch den Charakter von Aufstandsbekämpfung annehmen können. Das haben sie doch gemacht, das haben sie doch hingekriegt. Das hat doch funktioniert.27
Also doch Grund genug, wieder über Hausbesetzungen nachzudenken? Die ehemaligen Hausbesetzer sagten 2011 eindeutig ja:
Rüdiger: Trotzdem ist es aber gut und richtig, weiter Häuser zu besetzen! Die Systemfrage ist ja auch immer wieder spannend. Ich finde, sie hat auch ihre Berechtigung. Ich würde gern noch einmal eine Alternative erleben. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie die aussehen soll.
David: In Marzahn findet aber auch ein Verdrängungswettbewerb statt, wo die jeweils betroffenen Leute aus den Wohnungen weg müssen, und ich glaube, das ist noch mal eine ganz andere Bewegung, die da am Entstehen ist.
Dietmar: Vielleicht eine Migrantenbewegung?
Andrej: Ich glaube auch, daß es nicht nur in Marzahn, Spandau oder auf dem Falkenhagener Feld viel Leerstand gibt. Wir haben da, glaub ich, diese Millionen von Quadratmetern Büroleerstand mitten in der Innenstadt, die im Fokus von den Hausbesetzern nicht dabei sind, aber die für kollektive Wohnformen sicher nicht die schlechteste Idee sind.
Molti: Ich würde das so sagen: Jede Besetzerbewegung ist ja auch eine soziale und kulturelle Bewegung, und wenn Leute ihr Schicksal dann selbst in die Hand nehmen und sagen, ich bin jetzt selbstständig, ich entscheide etwas und mache was, das ist immer besser als alles andere.
Deswegen ist das unbedingt zu begrüßen, auch wenn jetzt in der Innenstadt keine freien Wohnhäuser zum Besetzen rumstehen.28
Hausbesetzungen erscheinen heute unmöglich und von einer Bewegung ist nicht zu reden. „Der Traum ist aus“, sangen Ton Steine Scherben. Doch sie schickten noch einen Halbsatz hinterher: „zu dieser Zeit.“
Quellen:
1 Nachdem der Widerstand in der Mainzer Straße endgültig gebrochen war und die Polizei eindrang, erklang aus einem Haus das Lied Der Traum ist aus von Ton Steine Scherben. Erstveröffentlicht auf: Keine Macht für Niemand (David Volksmund Produktion, 1972).
2 Wo ist vorne? Thomas Heise im Interview über seinen Film Material, von Robert Mießner und Alexander Reich, in: taz vom 18. August 2009.
3 Autorenkollektiv: Berlin – Mainzer Straße. Wohnen ist wichtiger als das Gesetz, Berlin, BasisDruck Verlag 1992, S. 38. Im Folgenden: Autorenkollektiv Mainzer. Interview mit Jacob (Mainzer Str. 8, Mitarbeiter im Vertragsgremium des Gesamtberliner BesetzerInnenrates),
4 Autorenkollektiv Mainzer, S. 35.
5 Nach ersten Angriffen faschistischer Gruppen auf die Mainzer Straße taten sich am 29. Mai einige Mieter in der Bürger-Initiative Mainzer Straße, später zwischenzeitlich Bürgerkomitee des WB 47, mit dem Zweck zusammen, eine politische Entscheidung und darauf folgende polizeiliche Maßnahmen zur Vertreibung der Besetzerinnen aus Friedrichshain durchzusetzen. Sie überzogen den Rat des Stadtbezirks und die Wohnungsverwaltung mit einer Flut von Beschwerdebriefen, die in ihrer Form und Wortwahl zunehmend drastischer, gewalttätiger, faschistoider wurden. Herr K., Betriebsinhaber in einer der Nebenstraßen der Mainzer, schrieb am 09. Juni an Helios Mendiburu: „Werter Herr Bürgermeister, ich erwarte in kürzester Zeit eine Änderung dieser Lage, oder soll ich erst meinen Betrieb bewaffnen und eine eigene Bürgerwehr gründen? Ich bin jedoch der Meinung, dieses Sicherheitsdefizit sollte durch die dafür zuständigen Behörden ausgeglichen werden. Geschieht dies nicht, muß ich in letzter Endkonsequenz so handeln, wie oben genannt. Die Beschaffung der entsprechenden Waffen und Verteidigungsmittel ist nun weiß Gott kein Problem.“ Vgl. Autorenkollektiv Mainzer, S. 37.
6 Zeitschrift telegraph, Ausgabe 17, vom 21. Dezember 1990, S. 20/21. Im Folgenden: telegraph.
7 Autorenkollektiv Mainzer, S. 32.
8 BesetzerInnen-Zeitung, 0-Nummer vom 15. August 1990, S. 7ff bzw. 9ff.
9 Abgesehen davon war die dann praktizierte„Berliner Linie“ eigentlich eine „Münchner“: Räumung von Neubesetzungen innerhalb von 24 Stunden.
10 Die HausbesetzerInnenbewegung in Ost-Berlin, in: telegraph, Ausgabe 9,10,11,12/1995
11 Autorenkollektiv Mainzer, S. 41.
12 Ebd., S. 176: Interview mit Reinhard Schult.
13 Ebd.: Interview mit Bärbel Bohley v. August 1991.
14 Ebd., S. 42.
15 Ebd., S. 78: Interview mit Falk (ehemaliger Mitbesetzer der Mainzer Straße).
16 Ebd., s. Fußnote 11.
17 Ebd.
18 Die thüringische Gemeinde Bischofferode wurde vor allem wegen eines Hungerstreiks der Bergarbeiter gegen die Schließung ihres Kalibergwerks Thomas Müntzer überregional bekannt. Die Schließung des Bergwerks am 31. Dezember 1993 konnten sie jedoch nicht mehr verhindern.
19 Der Bundesgrenzschutz (BGS) war eine direkt dem Bundesinnenministerium unterstellte paramilitärische Polizeitruppe. Neben Grenzschutz und Spezialeinsätzen im Ausland (z.B. Grenzschutzgruppe 9 – GSG9, vgl. die gewaltsame Befreiung der Landhut-Geiseln in Mogadishu) übernahm der BGS stets auch polizeiliche Aufgaben innerhalb der Bundesrepublik Deutschlands. Der BGS wurde – nach dem Abkommen von Schengen und dem damit verbundenen Wegfall der Grenzen innerhalb der Schengen-Mitgliedsstaaten – reorganisiert und heißt jetzt Bundespolizei. Sein Aufgaben- und Einsatzgebiet hat sich jedoch nicht sonderlich geändert.
20 telegraph, Ausgabe 17, vom 21. Dezember 1990, S. 21.
21 Autorenkollektiv Mainzer, S. 108 – 110: Interview mit Ralf v. 30.11.1990 – ehemaliger Mitbesetzer der Mainzer Straße
22 Ebd.
23 Die Begriffe Bürgerrechtler und Bürgerbewegung im Zusammenhang mit der DDR-Opposition sind eine Wortschöpfung der BRD-Presse. Die verschiedenen Gruppen der mehrheitlich in Kirchgemeinden beheimaten DDR-Opposition bezeichneten sich selbst stets als Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen. Sie handelten weitestgehend autonom. Eine DDR-weite Koordination ging über Versuche und Ansätze, wie das Menschenrechtsseminar 1986, nicht hinaus. Die inhaltlichen und teilweise auch persönlichen Differenzen waren zu groß. Hinzu kam eine ungleiche Dominanz der Berliner Gruppen, was teilweise wiederum zu Mißgunst und tiefem Mißtrauen anderer Nicht-Berliner Gruppen führte. Die verschiedenen Gruppen agierten nur zu besonderen Ereignissen koordiniert und möglichst einheitlich, wie zum Beispiel beim Kirchentag von Unten 1987, der Zions-Affäre 1987, den Januar-Ereignissen 1988, den Anti-IWF-Protesten 1988 und dann noch einmal zu den Kommunalwahlen 1989. Ab Spätsommer/Herbst 1989 drifteten die Gruppen immer weit auseinander, was dann auch anhand verschiedener neuer Bewegungs- und Parteigründungen erkennbar wurde (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Vereinigte Linke, SDP).
24 Ausnahmen sind hier der gewaltsame polizeiliche Übergriff gegen die Demonstranten in Berlin am 7./8. Oktober 1989 vor der Gethsemanekirche und die Straßenschlacht zwischen BewohnerInnen von Dresden mit der Volkspolizei in der Dresdner Innenstadt (Prager Straße/Hauptbahnhof) am 10. Oktober 1989.
25 4. Juni 1989: Nach monatelangen Protesten der chinesischen Studenten- und Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen-Platz) in Peking, setzte die kommunistische Regierung massiv Militär ein und verübte ein Massaker, in dem je nach Schätzungen zwischen 300 und 3000 Menschen getötet wurden. Viele AktivistInnen wurden in Schauprozessen zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt.
26 Autorenkollektiv Mainzer, S. 177 – 179: Interview mit Reinhard Schult.
27 Gesprächsrunde über die Ostberliner Hausbesetzerbewegung in den 1990er Jahren, http://www.ostblog.de/2012/01/da_haben_wir_die_ganze_huette.php
28 Gesprächsrunde über die Ostberliner Hausbesetzerbewegung in den 1990er Jahren, http://www.ostblog.de/2012/01/da_haben_wir_die_ganze_huette.php