von Dietmar Wolf, zuerst veröffentlicht auf telegraph.cc
22. Dezember 1989
Die BesetzerInnen der Schönhauser Allee 20, einem Haus im Prenzlauer Berg, das als stille Besetzung bereits seit Sommer 1989 existiert, geben ihre Besetzung offiziell bekannt. Dieser Tag gilt als Beginn der HausbesetzerInnenbewegung in Ostberlin.
Februar 1990
In Ostberlin sind etwa 20 Häuser besetzt.
Ein Gesamtberliner BesetzerInnen-Rat (B-Rat) wird gegründet.
4. April 1990
12 Nazis überfallen, in einer, anscheinend von langer Hand geplanten, Aktion das besetzte Haus in der Kreutziger Str. 19. Die mit Gasmasken ausgerüsteten Angreifer versprühen CS-Gas und schlagen eine Bewohnerin krankenhausreif.
5./6. April 1990
Nazis greifen die besetzten Häuser in der Adalbertstraße an und zerschmeißen Fensterscheiben. Die Häuser werden am 14. April von der Volkspolizei vorübergehend mit der Begründung geräumt, sie stellten Angriffsziele für Faschisten dar.
Mitte April 1990
In der Mainzer Straße werden die leerstehenden Häuser Nummer 2 bis 11 besetzt.
Etwas später kommen die Hinterhäuser 22 und 24 hinzu.
20. April 1990
Etwa 500 bis 600 rechte Skinheads und Hooligans ziehen nach einem Fußballspiel des FC Berlin gegen 18.00 Uhr vor das besetzte Haus Schönhauser Allee 20/21. Dort skandieren sie Parolen wie „Rote raus“ und „CDU-FAP“. Die Polizei geht gegen sie mit Schlagstöcken vor und treibt sie in Richtung Alex.
26. April 1990
Etwa 300 rechte Skinheads und Hooligans greifen, nach einem Punktspiel des FC Berlin (BFC), das besetzte Haus Lottumstr. 10a im Prenzlauer Berg an. Die Bewohner sind jedoch vorbereitet und schlagen den Angriff nach kurzer Zeit zurück.1. Juni 1990
Nazis überfallen das besetzte Kunsthaus Tacheles (ehemals Camera-Kino) in der Oranienburger Straße. Sie brechen die Café-Tür auf und gehen brutal gegen die BesetzerInnen vor. Eine Frau wird von einem Molotow-Cocktail getroffen und muß in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
Am gleichen Tag dringen Nazis in das besetzte Haus in der Kastanienallee 86 ein, drehen in einer leerstehenden Wohnung die Gashähne auf und beschmieren die Wände mit „Rote verrecke“.
Mai 1990
In Ostberlin sind etwa 50 Häuser besetzt.
2. Juni 1990
Faschisten und Hooligans greifen ein Straßenfest in der Kreutziger Straße an. Erst als die BesucherInnen des Festes die Hooligans in die Flucht schlagen, geht die Polizei dazwischen. Sie nimmt einige Hooligans und FestbesucherInnen fest und bringt sie zur Personalienfeststellung in eine Schule.
22. Juni 1990
Das Vertragsgremium des Gesamtberliner Besetzerrates wird gegründet.
24. Juni 1990
Ein Berliner Antifabündnis organisiert eine große Demonstration durch Lichtenberg und gegen das „besetzte“ Haus der Neonazipartei „Nationale Alternative (NA)“, in der Lichtenberger Weitlingstraße. Am Ende der Demonstration kommt es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und der Volkspolizei.
27. Juni 1990
Erstes Verhandlungstreffen des Vertragsgremiums mit dem Ostberliner Magistrat.
4. Juli 1990
Der Westberliner Senat übernimmt, in Person von Herrn Holzinger, die Verhandlungen mit den HausbesetzerInnen in Ostberlin. Holzinger erhält, pro Forma, eine Vollmacht des zuständigen Stadtrates Thomann.
24. Juli 1990
Die sogenannte „Berliner Linie“ wird auch im Ostteil der Stadt einführt. Ab diesem Zeitpunkt werden Neubesetzungen innerhalb von 24 Stunden geräumt.
August 1990
In Ostberlin sind etwa 200 Häuser besetzt.
Das Vertragsgremium des Gesamtberliner BesetzerInnen-Rats vertritt 120 besetzte Häuser.
2. Oktober 1990
Die Westberliner Polizei übernimmt die polizeiliche Hoheit in Ostberlin.
3. Oktober 1990
Die DDR hört auf, zu existieren. Ihr Staatsgebiet und 16 Millionen Menschen werden in die BRD eingegliedert.
8. Oktober 1990
Die Verhandlungen mit den Ostberliner HausbesetzerInnen werden endgültig und einseitig durch den Magistrat/Senat abgebrochen.
12. November 1990
7.00 Uhr:
Die Polizei räumt die besetzten Häuser in der Pfarrstraße 110 und 112 und der Cotheniusstraße 16. Zwei Festnahmen, eine kleine Prügelei seitens der Polizei. Wie sich später herausstellt, war zumindest eine der Räumungen in der Pfarrstraße widerrechtlich, da die BesitzerInnen des Hauses von der Wohnungsbauverwaltung vorher nicht informiert wurden und nach eigenen Aussagen die BesetzerInnen in das Haus zurück haben wollen. Eine vorherige Räumungsaufforderung wurde den BesetzerInnen nicht mitgeteilt.
11.00 Uhr:
Als diese Nachricht in der Mainzer Straße bekannt wird, bildet sich ein spontaner Demonstrationszug von etwa 100 Menschen mit dem Ziel Pfarrstraße. Schon auf der Frankfurter Allee wird eine erste Straßensperre mit Baustellengittern errichtet. Unter dem Motto „Räumt die Knäste, nicht die Häuser“ ziehen sie kurzzeitig durch den Friedrichshainer Kiez. Als sie zurückkommen, stehen auf der Frankfurter Allee, vor der Mainzer Straße, zwei Hundertschaften Polizei und ein Wasserwerfer. Die Straßenabsperrungen hatten sie schnell wieder abgebaut. Da die BesetzerInnen nur etwa 100 Leute sind, ziehen sie sich umgehend in ihre Häuser zurück. Die Mainzer Straße wird von der Polizei abgeriegelt. Die BesetzerInnen verbarrikadieren sich in ihren Häusern. Die Alarmkette der Berliner HausbesetzerInnen wird ausgelöst.
12.00 Uhr:
Eine Fahrzeugkolonne der Polizei aus Räumpanzer, Einsatzfahrzeuge und einem Wasserwerfer fährt in provozierender Weise durch die Mainzer Straße. Der Räumpanzer fährt voran und beseitigt provisorische Straßensperren, Müllcontainer; die Einsatzfahrzeuge der Polizei folgen, aus ihnen heraus verschießen Polizisten Tränengas. Am Ende der Kolonne fährt der Wasserwerfer und beschießt wahllos rechts und links die Wohnungen. Eine Gasgranate trifft das Kinderzimmer einer „normal“ gemieteten Wohnung, in dem ein einjähriges Kind mit 40° C Fieber im Bett liegt. Insgesamt fährt die Polizeikolonne viermal durch die Mainzer, wobei sie beginnt, mit Wasser und Tränengas auf die Frankfurter Alle zu schießen, auf der sich immer mehr Neugierige und SympathisantInnen einfinden. Die BesetzerInnen wehren sich, in dem sie die Polizeikolonne aus den Häusern heraus massiv mit Steinen attackieren. Die provisorischen Straßensperren werden von den BesetzerInnen wieder errichtet und möglichst verstärkt. Die Polizeikolonne kann somit an der weiteren Durchfahrt durch die Mainzer Straße gehindert werden.
13.00 Uhr:
Mittlerweile kursiert die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Nun sind bereits mehrere hundert Unterstützerinnen aus allen besetzten Häusern und aus allen Stadtteilen in der Mainzer Straße angelangt. Die notdürftig errichteten Barrikaden in der Mainzer werden verstärkt und in der angrenzenden Scharnweberstraße eine neue errichtet.
14.00 Uhr:
Die Polizei versucht, in ein besetztes Haus (Scharnweber Straße/Ecke Colbestraße) einzudringen. Sie wird ziemlich schnell zurückgedrängt. Die Polizei schießt mit Gasgranaten. Kurz danach geht sie erneut über die Scharnweberstraße mit schwerem Gerät vor. Ein Räumpanzer schiebt die Notbarrikaden beiseite. Er dringt, gefolgt von einem Wasserwerfer und einer Hundertschaft Polizei, bis zur Mainzer Straße vor. Erneuter Gaseinsatz. An der Mainzer Straße ist für sie erst einmal Schluß. Es geht ein Hagel von Steinen und Brandflaschen auf sie nieder. Die Polizisten müssen sich unter dem Schutz ihrer Fahrzeuge in Richtung Colbestraße zurückziehen. Wasserwerfer und Räumpanzer verlassen die Mainzer in Richtung Boxhagener Straße.
Nun werden im Bereich Colbe/Scharnweber/Mainzer Straße die Barrikaden ausgebaut, das Pflaster aufgerissen, Gräben ausgehoben, Wälle aufgeschüttet. Auf der Frankfurter Allee entsteht eine Barrikade, die zum Schluß hält und für die Polizei trotz Räumtechnik unüberwindbar bleibt.
Mittlerweile ist der Bezirksbürgermeister von Friedrichshain, Helios Mendiburu, eingetroffen. Er beginnt mit den BesetzerInnen zu verhandeln, nachdem er dies bereits mit der Polizei getan und diese hatte ihm zugesichert hatte, sie werde sich zurückziehen. Als er wieder aus der Straße heraus will, gerät er selbst in einen Tränengas- und Wasserbeschuß. Gleichzeitig versuchen die BesetzerInnen fieberhaft, an irgendwelche Zuständigen oder Verantwortlichen heranzukommen, um eine friedliche Lösung des Konflikts herbeizuführen.
17.00 Uhr:
Pressekonferenz im Antiquariat in der Mainzer Straße. Die BesetzerInnen betonen ihre Verhandlungsbereitschaft und, daß sie die Barrikaden abbauen werden, sollte die Polizei aus dem Kiez verschwinden und eine schriftliche Nichträumungsgarantie geben. Mendiburu erklärt sein Verständnis dafür, daß die BesetzerInnen Barrikaden bauen, um ihre Häuser vor einer Räumung zu schützen und ihre Hoffnungen auf erfolgreiche Vermittlungen und einen Waffenstillstand – allerdings mit der Einschränkung, daß die Barrikaden doch abgebaut werden, damit bei einem eventuellen Brand die Feuerwehr durchkommt.
19.30 Uhr:
Es befinden sich über 1.000 Menschen hinter den Barrikaden. Ihnen stehen 1.500 Polizisten, mehrere Wasserwerfer und Räumpanzer gegenüber. Für 20.00 Uhr ist seitens der Besetzerlnnen eine Vollversammlung geplant, gegen 22.00 Uhr eine Demo auf dem Ku’damm. Doch zur Versammlung kommt es nicht.
20.00 Uhr:
Die Polizei greift erneut an. In der Scharnweber Straße laufen immer wieder Plänkeleien. Gasbeschuß, Wasserwerfereinsatz. Niemand wurde zuvor aufgefordert, die Straße oder die Häuser zu verlassen. Mendiburu, der wiederum zwischen Einsatzleitung und Besetzerlnnen zu vermitteln suchte, wird abermals vom Wasserwerfer getroffen.
Zu dieser Zeit befinden sich verschiedene Parlamentarier und Presseleute, unter ihnen Bärbel Bohley, Reinhard Schult vom Neuen Forum und Reiner Börner von der PDS, ALer, aber auch Bezirksbürgermeister Mendiburu, hinter der Polizei. Sie bemühen sich intensiv, zu vermitteln und den Polizeieinsatz zu stoppen. Bärbel Bohley versuchte stundenlang, Innensenator Erich Pätzold (SPD) telefonisch zu erreichen oder mit dem Einsatzleiter zu sprechen – beides ohne Erfolg. Ein Initiativkreis aus MitgliederInnen des Abgeordnetenhauses, der Bezirksverordnetenversammlung (BVV), prominenten Personen und AnwohnerInnen bildet sich, um für eine friedliche Lösung einzutreten.
Den ganzen Abend über wird die Mainzer Straße von der Boxhagener Straße, der Scharnweberstraße und der Frankfurter Alle aus mit Tränengas, Senfgas (CN/CS) und Blendschockgranaten beschossen. Es gelingt der Polizei jedoch nicht, in die Mainzer einzudringen – zur Verteidigung werden Steine und Molotow-Cocktails geworfen. Mendiburu spricht mit dem Einsatzleiter, der ihm sagt, daß er hier nichts mehr zu melden habe. An der Boxhagener Straße/Ecke Mainzer Straße werden zwei Straßenbahnen gestoppt und Bauwagen umgeworfen, so daß dieses Gebiet bis zum Morgen für die Polizei nicht befahrbar ist.
22.00 Uhr:
200 Menschen demonstrieren auf dem Ku’damm. Derweil werden auch auf der Frankfurter Allee Barrikaden errichtet.
23.00 Uhr:
Auf der Frankfurter Allee bildet sich zwischen Barrikaden und Polizei eine Abgeordnetenkette, um gegen den massiven Polizeieinsatz zu protestieren und eine friedliche Lösung des Konflikts zu erreichen. Die Promiketten, an der sich unter anderem Ines Können (UFV), Kai Schirmer, Bärbel Bohley (beide Bündnis 90) und Abgeordnete der SPD und der PDS beteiligten, wird von einem Wasserwerfer gesprengt. Doch immer wieder zieht die Promikette schützend vor den Barrikaden auf.
Die Polizei beginnt nun mit einem frontalen Angriff auf die Mainzer Straße. Ein riesiger Pulk Polizisten rückt auf der ganzen Breite der Frankfurter vor. Räumpanzer und Wasserwerfer machen sich an der großen Barrikade zu schaffen. Als der Polizeipulk fast an der Mainzer ist, hagelt es von den Dächern Pflaster- und Ziegelsteine, Dachziegel und Brandflaschen. Die Polizisten ziehen sich panisch in die Seitenstraßen und an die Häuserwände der Frankfurter Allee, gegenüber der Mainzer zurück.
13. November
00.15 Uhr:
Die Polizei versucht, über Colbe- und Kinzigstraße, und dann über die Hinterhöfe, in die Mainzer Straße einzudringen. Als plötzlich erste Polizisten in einem Hauseingang hinter der Barrikade an der Frankfurter Allee auftauchen, werden sie sofort direkt mit Steinen und Molotow-Cocktails angegriffen und zurückgeschlagen.
01.00 Uhr:
Jetzt wird auch an der Boxhagener Straße eine Straßensperre errichtet.
Bärbel Bohley erreicht nach endlosen Gesprächen, daß sich die Polizei zurückzieht.
Der Westberliner Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain, Georg Scherz, stellt jetzt, auf Drängen des Senats und der Polizei einen förmlichen Räumungsantrag. Polizeikräfte aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen werden angefordert.
02.30 Uhr:
Die Polizei hat die Angriffe eingestellt und zieht sich sichtbar zurück. Sie bleibt jedoch die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag im Kiez. Nach dem Abzug wird
zusammen mit der Straßenreinigung die Frankfurter Allee von Barrikaden geräumt. Dies war die Erfüllung des „Waffenstillstands“, den Bärbel Bohley erreicht hatte.
03.00 Uhr:
Jetzt befindet sich auch Renate Künast (AL-Fraktionsvorsitzende) unter den Promis. Da in der Mainzer und umliegenden Straßen ca. 1.500 Menschen solidarisch mit den Besetzerinnen kämpften bzw. sich vor die Polizei stellten, drangen diese nicht in die Mainzer vor. Bis ca. 1.00 Uhr fuhr ein Wasserwerfer ständig schnell über die Boxhagener Straße an der Mainzer vorbei. Und immer wieder Vermittlungsversuche, Telefongespräche, Interviews.
Ab 07.00 Uhr:
Im weiteren Tagesverlauf und der darauffolgenden Nacht versuchen verschiedene Parlamentarier und der Berlin-Brandenburger Bischof Forck an zuständige Personen heranzukommen. Vergeblich. Bärbel Bohley meldet sich wiederholt bei Innensenator Pätzold an. Doch Pätzold läßt sich verleugnen. Innenstadtrat Krüger erweist sich als nicht zuständig („wenn die Polizei im Einsatz ist, müssen sich Politiker zurück halten“). Die Bürgermeister Tino Schwierzina und Walter Momper (beide SPD) sind in Moskau. Auch die AL kann nichts erwirken. Selbst die Renate Künast steht beim Koalitionspartner vor verschlossenen Türen.
Die BesetzerInnen suchen derweil den persönlichen Kontakt zur Bevölkerung. Per Megaphon wird versucht, die Ereignisse der letzten Nacht und des letzten Tages zu erläutern.
11 .00 Uhr:
Straßenplenum. Es wird beschlossen, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um einen bevorstehenden „Bürgerlnnenkrieg“ und die anschließende Räumung zu verhindern. Den ganzen Tag über geben die BesetzerInnen der massenhaft anwesenden Presse bereitwillig Interviews, um ihre Verhandlungs- und Gesprächsbereitschaft zu bekunden.
14.00 Uhr:
Eine Pressekonferenz findet statt, auf der die BesetzerInnen unter anderem darauf hinweisen, daß sie die ganzen sechs Monate, die sie in der Mainzer gewohnt haben, auch Verhandlungen mit dem Magistrat geführt haben. Ebenso erklären sie deutlich ihr Interesse, den Konflikt friedlich beizulegen und die Barrikaden abzubauen, sobald es eine Nichträumungs-Garantie gäbe. Doch die anwesenden Medien berichten davon anschließend nichts.
17.00 Uhr:
Es wird bekannt, daß die Polizei um 05.00 Uhr erneut angreifen werde und BGS-, GSG- und SEK-Einheiten unterwegs seien. Daraufhin wird der Barrikadenbau verstärkt, da offensichtlich mit einer Räumung zu rechnen ist, obwohl Pätzold die Nacht vorher noch über Rundfunk verlauten ließ, daß er nicht vorhabe zu räumen. Am späteren Abend kommt die Information, daß bereits 1.200 Polizisten aus Nordrhein-Westfalen und 300 aus Niedersachsen auf dem Weg nach Berlin seien.
14. November
03.45 Uhr:
In der Mainzer Straße 23 (Mietshaus) wird ein Kellerbrand entdeckt. Der Verantwortung voll bewußt, daß ein Löschzug nicht durch die Barrikaden komme, beginnen sofort fieberhafte Löschaktionen mit Sand, Wasser und Feuerlöschern. Die ganze Straße ist auf den Beinen, um beim Löschen des Brandes mitzuhelfen; unter Einsatz ihres Lebens steigen auch einige in den Keller, um den Brand direkt unter Kontrolle zu bekommen. Als die Feuerwehr eintrifft, wird sie natürlich in kleinster Weise behindert. Im Gegenteil: die Barrikaden werden geöffnet. Eine Frau mit Kind ist bereits über eine Leiter aus dem ersten Stock evakuiert. Als der Brand gelöscht ist, bleibt noch ein Feuerwehrmann zur Beobachtung zurück. Er geht jedoch, als gegen 05:30 Uhr die Polizei auffährt, da er Angst bekommt.
Die Vermutung, daß dieser Brand Sabotage war, verfestigt sich immer mehr. Das
letzte noch funktionierende Telefon der besetzten Häuser ist bei Brandbeginn von außerhalb abgestellt worden. Es funktioniert erst wieder, als der Brand gelöscht ist. Ebenso erscheinen just im gleichen Moment Dokumentationsteams der Polizei auf den Dächern der Frankfurter Alle gegenüber der Mainzer, um mit Mikros und Kameras die Anzahl der in den Straßen befindlichen Menschen festzuhalten.
06.00 Uhr:
Die Polizei stellen sich mit einer wahren Armee an allen Zugängen zur Mainzer auf (3.000 Polizisten, mehrere Sondereinsatzkommandos, 10 Wasserwerfer, mehrere Räumpanzer, Hubschrauber, diverse andere Technik) und beginnt mit dem finalen Angriff auf die Mainzer. CN/CS-Gas wird massenhaft und während der gesamten Zeit eingesetzt. Ebenfalls Wasserwerfer, Gummigeschosse (in Berlin verboten – nur in Bayern erlaubt) und – scharfe Munition?! Tatsächlich gibt es Berichte, das zwei VerteidigerInnen mit scharfen Schüssen verletzt wurden. „Auf der VV am Donnerstagabend wurde berichtet, daß die vermeintlichen Gummigeschosse keine Gummigeschosse gewesen seien, sondern eine neue Art von Tränengasgranaten, die sich in der Luft teilten, damit sie nicht zurückgeworfen werden könnten. Anm. d. PROWO..“1
06.30 Uhr: Der Brand in der Nr. 23 bricht erneut aus. Die Aufforderung an die Polizei, den Angriff auszusetzen, bis der Brand gelöscht sei, wird ignoriert. Die Feuerwehrleute weigern sich, die Straße zu betreten, weil sie nicht im Kampfgetümmel sein wollen, übergaben aber der Polizei den Schlüssel zum Hydranten. Lena Schraubt, die sich in einem der besetzten Häuser aufhielt, um zu vermitteln, erklärt sich bereit, den Schlüssel abzuholen. Sie wird dermaßen mit Tränengas beschossen, daß es ihr unmöglich ist, die Barrikaden zu passieren. Glücklicherweise gelingt es den BesetzerInnen aus eigener Kraft, den Brand trotz der laufenden Räumung zu löschen.
Eine Menschenkette von Politikern DDR-Bürgerrechtlern, die „Keine Gewalt“ und „Keine Räumung“ fordert, formiert sich vor der Barrikaden an der Boxhagener Straße. Sie wird von der Polizei abgedrängt, die daraufhin die erste Barrikade abräumt. Daraufhin rücken ein Wasserwerfer und Räumfahrzeuge an, um die weiteren Barrikaden abzuräumen. Die Menschenkette wird dabei vom Wasserwerfer weggespritzt. Da das erste Räumfahrzeug im ersten Graben stecken bleiben, gibt die Einsatzleitung der Polizei über Megaphon den Befehl, zu Fuß in die Mainzer einzudringen. Gegen den nun einsetzenden Steinhagel schützen sich die Polizisten mit 2×1 Meter großen Schilden. Gleichzeitig steigen SEK-Einheiten auf die Dächer, um von dort in die Häuser einzudringen. Zum Teil werden sie mit Hubschraubern abgesetzt. Doch zuvor schießen sie auf die Menschen, die auf den Dächern stehen, mit Gasgranaten und Gummigeschossen. Etwaige Abstürze mit Todesfolge nehmen die Polizisten dabei billigend in Kauf.
09.00 Uhr:
Die letzten VerteidigerInnen ziehen sich in die Häuser zurück. Noch etwa eine Stunde dauert es, bis es der Polizei gelingt, in das erste Haus einzudringen und die sich nicht wehrenden Menschen festzunehmen. Zur restlosen Erstürmung der gegen die permanenten Neonaziangriffe gut gesicherten Häuser benötigt die Polizei mehrere Stunden. In den eroberten Häusern geht sie mit unerbittlicher Härte und Brutalität vor. Es wird berichtet, daß sich in zwei Häusern, in den SEK-Einheiten die dort anwesenden Menschen festnahmen, „besonders blutige Szenen“ abgespielt haben sollen:
„Alle wurden mit Tritten auf den Kopf zu Boden gezwungen, Frauen in den Unterleib getreten, so daß ein Milzriß (zwei Tage Intensivstation mit Lebensgefahr), eine Leber-Gallen-Stauchung (Vergiftungserscheinungen mit Lebensgefahr) und schwere Unterleibsblutungen zu verzeichnen waren. Ganz zu schweigen von den Knochenbrüchen und schweren Gehir-nerschütterungen, Platzwunden und Prellungen, die den Besetzerinnen und Unterstützerinnen zugefügt wurden, obwohl selbst der Polizeibericht nur in einem Fall von Widerstand redet. Eigentlich wurden alle Festgenommenen verletzt. Dabei blieben die Insassen des Tuntentowers noch halbwegs verschont, da in ihrem Haus viel Prominenz anwesend war, so daß sich die Polizei nicht trauten, ihre Prügelorgie abzuziehen. Von AnwohnerInnen wurde beobachtet, wie Menschen unverletzt in die Häuser gingen und sie schwerverletzt, blutüberströmt wieder verließen. Die Polizei standen in den Häusern Spalier, das die Gefangenen passieren mussten, wobei es zu sexistischen Übergriffen gegen Frauen kam. Ebenso wurden die Gefangenen die Treppe hinuntergestoßen.“2
Bis in den Nachmittag hinein braucht die Polizei, um die Gefangenen abzutransportieren.
15.00 Uhr:
Die Verhafteten sind abgeführt. Die Mainzer Straße wird mit hohen Gittern abgesperrt.
Am Abend demonstrieren 15.000 Menschen aus Solidarität mit den nun heimatlosen Besetzerlnnen der Mainzer. Am Frankfurter Tor und am Bersarinplatz gibt es bis nachts um 01.00 Uhr erneut militante Auseinandersetzungen mit der Polizei.
15. November
AnwohnerInnen beobachten in der Nacht die Siegesorgien der Polizei. Sie spielen Fußball, singen Lieder, lachen und geifern, klauen den Sekt aus der Nr. 4, das Bier aus der Nr. 7 und feiern Feten.
08.00 Uhr:
Die Demolierungsmaßnahmen beginnen. Mobiliar, Geschirr, Bücher, Stereoanlagen fliegen aus den Fenstern. Antiquitäten werden mit der Axt zertrümmert und aus dem Fenster geschmissen. Die Bevölkerung wird zu Plünderungen aufgefordert.